Zur Lage in der Türkei

Hallo und Guten Tag,
auch in dieser Ausgabe reicht es aus zeitlichen Gründen wieder nur für einen Pressespiegel. Allerdings sind wir gerade dabei, die Diskussion unserer Veranstaltung zusammenzufassen und können diese Ergebnisse hoffentlich in der nächsten Alhambra-Ausgabe präsentieren.

Bündnis gegen Isolationsfolter


junge Welt, 22.12.01
Isolieren und töten
Karin Leukefeld
Ein Sammelband über das türkische Gefängnissystem

»Bei lebendigem Leib. Von Stammheim zu den F-Typ-Zellen«, lautet der Titel einer
Neuerscheinung aus dem Unrast-Verlag. Das Buch befaßt sich mit dem »Gefängnissystem und Gefangenenwiderstand in der Türkei«. Die Herausgeber Peter Nowak, Gülten Sesen und Martin Brinkmann wollen mit dieser Textsammlung dazu beitragen, »daß die Frage von politischer
Gefangenschaft und Solidarität in der Linken wieder diskutiert wird«.
Das Inhaltsverzeichnis klingt verheißungsvoll: »Entwicklung und Einführung von Isolationshaft« sollen wissenschaftlich dargestellt werden, gefolgt von einem Überblick über das »Gefängnissystem in der Türkei«. Ein Kapitel behandelt die »Revolutionäre Linke in der Türkei«, ein weiteres »Solidaritätsarbeit in der BRD«. Ein »Dokumentationsteil« beschließt den Band.
Schon auf den ersten 30 Seiten wird allerdings eine wesentliche Schwäche des Buches deutlich: Es gibt jede Menge Wiederholungen, die bei einem sorgfältigen Lektorat hätten vermieden werden können.
Der Beitrag von Murat Demir vom Verein für die Rechte der Unterdrückten Völker (RUV) über das »Gefängnissystem in der Türkei« ist informativ, nützlich die Übersicht über die verschiedenen Gefängnisformen und die staatlichen »Runderlasse«, die die erkämpften Rechte der Gefangenen meist wieder rückgängig machten.
Der Beitrag von Peter Nowak über den »Todesfastenwiderstand 2000/2001« verfehlt eine Einordnung der Geschehnisse in den gesamtpolitischen Kontext. Das hätte die im Text angesprochenen Differenzen zwischen den Gefangenen der PKK und denen der türkisch-kurdischen Linken deutlich gemacht. Positionen von Gewerkschaften, dem IHD oder der Türkischen Menschenrechtsstiftung läßt der Autor weitgehend außer acht. Angesichts der Tatsache, daß diese Organisationen wesentlich zur anfänglichen Stärke der Protestbewegung gegen die F-Typ-Gefängnisse beigetragen haben, ist das unverständlich.
Unverständlich kurz, fast oberflächlich wird die Angehörigenorganisation TAYAD vorgestellt. Auch wenn die Organisation nicht die Initiative zu jener Widerstandsaktion für sich in Anspruch nehmen kann, wie es der Beitrag nahelegt, hat TAYAD viel zur Entwicklung der Solidarität mit den politischen Gefangenen beigetragen. Die Frage, warum sich Angehörige von TAYAD an demTodesfasten beteiligen, wäre interessant gewesen, wird aber nicht gestellt.
Martin Beckmann liefert eine Fleißarbeit über »Die revolutionäre Linke in der Türkei«, reflektiert aber - der Autor weist selbst darauf hin - in großen Teilen die Sicht der DHKP-C. Diese Tendenz zieht sich durch das gesamte Buch, was es einseitig macht. Das wird auch in den Beiträgen zur »Solidaritätsarbeit in der BRD« deutlich. Es fehlt einfach die Frage: Warum konnten die Proteste nicht gebündelt werden? Hätten die Autoren einen Diskussionsprozeß gewollt, hätten sie mehr Stimmen zu Wort kommen lassen. Das ist nicht gelungen. Oder war es nicht gewollt?


junge Welt, 02.01.2002
Exportgut Folter
Karin Leukefeld
»Der lautlose Tod« – Hüseyin Karabeys Film über Isolationshaft wird dieses Jahr durch die deutschen Kinos touren

»Erklären Sie Isolationshaft mit einem Wort!« Die Gesprächspartner, alle langjährig als politische Gefangene inhaftiert, viele Jahre in Isolationshaft, schauen den Regisseur ungläubig an. »Mit einem Wort? Das ist unmöglich!« Andreas Vogel vom »2. Juni« schüttelt den Kopf. Mitxel
Sarasketa, als ETA-Mitglied inhaftiert, sagt schließlich: »Isolation soll die menschlichen Gefühle töten.« Günther Sonnenberg, ehemaliger RAF-Gefangener, 16 Jahre in Haft, zögert nur kurz:
»Folter.«
Ursprünglich wollte der 30jährige Hüseyin Karabey, ein unabhängiger Filmemacher aus Istanbul, einen Beitrag zur Diskussion über die F-Typ-Gefängnisse in der Türkei machen. Er wollte die »europäischen Standards« zeigen, von denen sich viele eine Besserung für die türkischen Gefängnisse erhofften. Die Realität war schneller. Der türkische Staat verlegte am 19.12.2000 in einer für viele tödlich endenden Operation mehr als 1000 Gefangene in die damals noch unfertigen Isolationsgefängnisse, wo sie heute in Einer- oder Dreierzellen inhaftiert sind. 30 Gefangene kamen dabei ums Leben. Mehr als 80 Menschen sind seitdem beim Todesfasten gestorben.
Karabeys Film besteht aus drei Strängen. Interviewauszüge bilden den Hauptstrang. Karabey sprach zwischen Oktober 2000 und Februar 2001 mit ehemaligen politischen Gefangenen, Angehörigen, Anwälten, Ärzten und Psychologen. Die einzige Stimme aus der Türkei ist der Parlamentsabgeordnete und Psychologe Mehmet Bekaroglu, der sich seit langem gegen die Isolationsgefängnisse einsetzt. Als Militärpsychologie erfuhr er 1983 zum ersten Mal von den Plänen, die neuen Gefängnisse bauen zu lassen. Wie so oft lieferte Deutschland auch hier das Vorbild: Stuttgart-Stammheim.
Im zweiten Strang spielt die Istanbuler Schauspielerin Jülide Kural in kurzen Szenen die Isolation nach: die Versuche, ohne Tageslicht zu lesen; die wirren Gedanken; die Kopfschmerzen; die verlorene Orientierung; die verlorenen menschlichen Empfindungen. Viele Jahren hat sich Kural mit der Isolationshaft auseinandergesetzt. Vier davon lebte und arbeitete sie in Berlin, wo sie auch an einer Theaterinszenierung über Ulrike Meinhof mitwirkte.
Der dritte Strang des Films zeigt den Tagesablauf in einem privaten Frauengefängnis in Texas. Die Gefangenen sind aus Kostenersparnis in großen Zelten untergebracht. Bestraft werden sie mit 23-Stunden-Tagen in Einer- oder Dreierzellen. Eine Stunde Hofgang unter Bewachung kommt dazu. Um aus der »Strafhaft im Bunker« herauszukommen, »bewerben« sich die Gefangenen für die »Chain Gang«: 30 Tage harte, schwere Arbeit,mit Fußfesseln aneinandergekettet.
Technische Mittel setzt Hüseyin Karabey sparsam ein. Verdoppelte Bilder stellen die innere Zerrissenheit der Gefangenen dar. Einmal beschreibt einer, daß man manchmal denkt, man habe etwas gesagt, es aber nur gedacht. Dabei bleibt der Mund stumm. Oft herrscht Stille, während man ein Gesicht betrachtet. Oder die Leinwand bleibt schwarz. Karabey will »die schweigende Mehrheit in der Gesellschaft erreichen«, wie er sagt. Er will, daß die Leute anfangen, Fragen zu stellen.
Der Film schließt mit Dokumentaraufnahmen von der Militäroperation am 19. Dezember 2000. Das Datum markiert ein traumatisches Erlebnis äußerster staatlicher Brutalität – für die Gefangenen, die Angehörigen und alle, die sich für die Forderungen der Gefangenen eingesetzt hatten. Unterlegt sind die Bilder mit einem Widerstandslied der Gefangenen, das immer lauter wird. Die Isolationshaft wird es nicht zum Schweigen bringen.
»Sessiz Ölüm« (Der Lautlose Tod) wird in den nächsten Monaten in diversen deutschen Städten gezeigt. Informationen darüber bei www.libertad.de


Frankfurter Rundschau, 03.01.2002
43. Häftling starb infolge des Hungerstreiks

ISTANBUL, 2. Januar (afp). Bei dem Hungerstreik türkischer Gefangener ist der 43. Häftling gestorben. Der 31-Jährige erlag nach 265 Tagen im Krankenhaus von Izmir im Westen des Landes den Folgen der Nahrungsverweigerung, teilte der türkische Menschenrechtsverein IHD mit. Der Anhänger einer kommunistischen Organisation hatte seit 1996 auf seinen Prozess gewartet. Seit Oktober 2000 beteiligen sich hunderte Häftlinge und ihre Angehörigen an dem Hungerstreik gegen die geplante Einführung kleinerer Zellen.
Der türkische Generalstaatsanwalt Sabih Kanadoglu forderte unterdessen die rasche Aufnahme des Verbotsverfahrens gegen die Kurdenpartei Hadep. Der Fortbestand der Partei gefährde die Einheit der Türkei, sagte er der Nachrichtenagentur Anadolu.