literaturseite
Ruth langweilt sich
Es ist wirklich unangenehm langweilig.
Als ich jünger war, dachte ich, wenn ich viel daran denke, wie es ist,
alt zu sein, dann kann mich nichts mehr überraschen. Ich dachte mir, es
wäre wahrscheinlich ganz gut, alt zu sein. Ich habe mir vorgestellt, ich
wäre so eine coole Alte, mit viel Schmuck und lila gefärbten Haar.
Und ich würde in einem Haus wohnen, in Nizza vielleicht, und das schwankte
immer, die Idee, wo das Haus sein würde. Auf jeden Fall wäre das Haus
immer voll mit wirklich verrückten Menschen, die echt verrückte Sachen
machen würden. Auf Tischen tanzen und sowas. Und ich könnte über
alles lachen, weil ich weise wäre und es besser wüßte. Was auch
immer. Und so richtig klasse wäre es, dachte ich immer, daß mir im
Alter die meisten Geschichten egal wären. Liebeskummer, Cellulite und sowas.
Ich dachte mir, es müsse wirklich ganz nett sein, alt zu werden. Und jetzt
bin ich alt und weiß gar nicht, wie es so schnell dazu kommen konnte.
Ich bin nicht reich, ich dachte immer, das käme schon noch, aber es kam
halt nicht. Es kam auch kein reicher Mann. Oder sagen wir mal, überhaupt
ein Mann, der blieb. Immer dachte ich, es käme da noch ein besserer, weil
ich ja auch immer besser würde. Aber das stimmte auch nicht. Es kamen eher
immer weniger und schlechtere. Und auf einmal war ich alt. Ohne mich irgendwie
weise oder eben alt zu fühlen. Ich fühle mich nur gelangweilt. Ich
wohne also nicht in einem Haus in Nizza, sondern in einem verfluchten Altersheim.
Die anderen hier, die sind wirklich alt. Ich nicht. Wenn eines noch an Wunder
glaubt, ist es nicht alt. Ich glaube, das kann wirklich nicht alles gewesen
sein. Es wird noch etwas ganz Großes passieren. Irgendwas, das mir klar
macht, wozu das alles gut ist. Das weiß ich nämlich beim Stand der
Dinge nicht wirklich. Ich am Fenster und seh den totkultivierten Garten an.
In meinem Haus in Nizza wäre mein Garten ganz verwildert gewesen. Ich hätte
da jetzt draußen gesessen, mit ein paar Freunden, einige würden grad
wieder auf dem Tisch tanzen, und ich würde mich vielleicht langweilen,
wegen dieser permanenten Tischtanzerei. Wenn dem Menschen nichts mehr einfällt,
glaubt er auf einmal, daß es einen Gott gibt. Hey, bitte lieber Gott mach,
daß noch etwas kommt.
sibylle berg