Von Amts wegen anders

Institutioneller Rassismus ist in der Struktur des Staates schon angelegt

Schikanen bei öffentlichen Einrichtungen und Behörden, die statistische Erfassung von „Ausländerkriminalität“ oder der Ausschluss von demokratischen Wahlen sind offensichtliche Diskriminierungen, hinter denen sich institutioneller Rassismus verbirgt. Doch die Wurzel des Übels sitzt tiefer: in der Geschichte und Verfasstheit des Staates und seiner Institutionen.
von Serhat Karakayali und Vassilis Tsianos

Die Beschäftigung mit institutioneller Diskriminierung hat in Deutschland, anders als im anglo-amerikanischen Raum, keine lange Tradition. Erst in den 90er Jahren wurde insti­tutioneller Rassismus thematisiert.1 Im Kontext eines Modells von kulturellem Pluralismus (Multikulturalismus) und verstärkten Anstrengungen zur Gleichstellung von Frauen wurde das Konzept in den 80er Jahren begrifflich und politisch geöffnet und zu einem allgemeinen Konzept institutioneller Diskriminierung weiter-entwickelt, das alle relevanten Diskri-minierungsmuster bezüglich Geschlecht, sozialer Schicht, Alter usw. einzuschließen sucht. Erst die Kenntnisnahme und Kritik von institutioneller Diskriminierung macht Programme der affirmative action2 oder von Quotierungen zugunsten bestimmter Personengruppen möglich.
Die Begriffskombination »institutioneller Rassismus« war bereits in den sechziger Jahren von Stokely Carmichael und C.V.Hamilton verwendet worden, zwei einflussreichen Theoretikern der Black Power-Bewegung. Sie soll deutlich machen, dass rassistische Denk- und Handlungsweisen nicht Sache der Ein-stellung einzelner Individuen, sondern in der Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens verortet sind, welche die Angehörigen der eigenen Gruppe sys-tematisch gegenüber den Nicht-Dazu-gehörigen privilegieren. Man beteiligt sich an der Diskriminierung, solange man sich diesen Bedingungen anpasst- persönliche Vorurteile müssen dabei gar nicht im Spiel sein. Es geht bei der Verwendung des Begriffes darum, die Trennung zwischen politisch-institutionellen Verhältnissen und dem »rassistischen Subjekt« zu überwinden, indem der institutionelle Rassismus als Voraussetzung des indi-viduellen verdeutlicht wird. Dabei werden scheinbar bloß subjektive Äußerungen von Rassismus eben als unterschiedliche subjektive Abwehr- und Rechtfert-igungsformen identifiziert: das Subjekt lässt sich durch die politisch-institutionell »angebotenen« rassistischen Arrange-ments (z.B. Ausländerrecht) und um des scheinbaren individuellen Vorteils willen korrumpieren.


Mehr als Gesetze

Seit Mitte der 80er Jahre arbeitet das DISS (Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung) zu den Themen Rechts-extremismus und Rassismus. Es ent-wickelte in Anlehnung an Foucaults Diskursbegriff ein Rassismusverständnis, das sowohl Wissen und Handlungen als auch deren institutionelle Verfestigungen in staatlichen Formen umfassen sollte.3 Im Rahmen dieser Arbeiten entwickelten Siegfried und Margret Jäger einen Ansatz, nach dem Rassismus ein Dispositiv, eine »Ansammlung bestimmter Diskursele-mente im Einwanderungsdiskurs«4 ist, welche die negative Bewertung ab-weichender kultureller oder körperlicher Merkmale beinhalten. Institutioneller Rassismus ist gleichbedeutend mit administrativem Handeln auf der Grund-lage von Gesetzen.
Institutionen werden von Jäger/Jäger im Wesentlichen als Staat verstanden, der mit seinen diskriminierenden Handlungen gegenüber Migrantinnen die Grundlage für rassistische Einstellungen liefert. Der Rassismus ist somit »Folge des he-gemonialen, in Gesetzen gefassten und in der Politik vertretenen Rassismus«. Den staatlichen Instanzen sei eine »(Mit)-Verantwortung« für die rassistischen Handlungen zuzusprechen, vor allem weil der Staat durch sein Gewaltmonopol und seine demokratische Legitimation »sich jeder Kritik entziehe«. Zwar deuten die Autorinnen einen Zusammenhang mit Migration an, indem sie etwa darauf verweisen, dass der Staat auf den »Druck« der Migration reagiere, ansonsten bleibt aber ungeklärt, weshalb staatliche In-stanzen überhaupt rassistisch diskri-minieren. Einen Hinweis könnte dabei die Formulierung geben, nach der die Staats-apparate ihre Entscheidungen »auf der Grundlage von Gesetzen« treffen. Staatsapparate funktionieren also nicht bloß automatisch, sondern sind durchzogen von konfliktiven gesellschaftlichen Ver-hältnissen.
Anfang der 90er jähre hat Birgit Rommel-spacher5 diesen Aspekt zur Sprache gebracht, als sie die Interessen der Mehrheitsbevölkerung an der Unter-drückung der Minderheiten thematisierte. Nach ihrem Konzept der »Dominanzkultur« wollen die Vertreterinnen der Mehrheit ihre Privilegien und Vormachtstellung mit Hilfe ständiger Normierungen gegenüber den Migrantinnen absichern. Kulturelle He-gemonie dient demzufolge der Aus-grenzung und Entwertung der kulturellen Praktiken der ,Anderen’, sie ist Ausdruck individueller internalisierter Strategien, die sich zugleich in Institutionen nieder-schlagen. Dieser Ansatz war hilfreich, um die subjektiven Interessen von Frauen und Männern an verschiedenen Formen des Rassismus zu verstehen. Woran es ihm jedoch mangelt, ähnlich wie bei Jäger/ Jäger, ist die Theoretisierung des unter-stellten asymmetrischen sozialen Ver-hältnisses, innerhalb dessen die Akteure ihre Strategien entfalten. Die Ungleichheit, die die Mehrheitsdeutschen absichern wollen, ist ebenso vorausgesetzt wie bei Jäger/ Jäger der Diskriminierungsrassismus des Staates, der lediglich nach,unten’ ausstrahlt.
Der Begriff des Institutionellen Rassismus stellt den Höhepunkt der bisherigen deutschen antirassistischen Debatte dar, sowohl hinsichtlich der relativen Etab-lierung bis in linksliberale Kreise, als auch seiner Wirkungslosigkeit.
An den oben skizzierten Mängeln wird deutlich, dass die Debatte um In-stitutionellen Rassismus in Deutschland ohne die in der internationalen Dis-kussion übliche theoretische Begriffs-arbeit geführt wird. Der Begriff wurde eingeführt, ohne die sozialen und theoretischen Modi in den Blick zu nehmen, die es ermöglichen, Institut-ionen auf ihre rassistischen Impli-kationen oder Praktiken hin zu ana-lysieren. Stattdessen wurden in einem theoretischen Verfahren Institution und Rassismus einfach zueinander addiert. So kann man den Rassismus zwar skandal-isieren, nicht aber in seinem gesellschaft-lichen Wirkungszusammenhang be-greifen.
Es ist unter anderem diese theoretische Ungenauigkeit, die Robert Miles schon Mitte der 80er Jahre veranlasste, eine Kritik der institutionalisierten Formen antirassistischer Politik z.B. in Gestalt von Anti-Diskriminierungsgesetzen zu for-mulieren, denen ein bestimmtes Ver-ständnis von »institutionellem Rassis-mus« zugrunde lag.6 Zwar wurde Miles auch in der deutschen Debatte beinahe schon inflationär rezipiert, jedoch nur hinsichtlich seiner Systematisierung der Definitionskriterien des Rassismus-begriffs. Nicht zur Kenntnis genommen wurde hingegen seine Analyse des Institutionellen Rassismus. Gerade hier bestehen jedoch Ansatzpunkte für die Weiterentwicklung einer Theorie des Verhältnisses zwischen Staat und Rassismus.


Miles & More

Robert Miles, Soziologe und Leiter der Forschungsgruppe »Migration und Ras-sismus« an der Universität Glasgow, ist einer der bekanntesten Vertreter der neuen britischen Rassismusdiskussion. Mit seiner Abwendung vom Paradigma des »Rasse«-Konzeptes ebnete er den Weg für die Anwendbarkeit des Kon-zeptes der Rassenkonstruktion auf Prozesse der Ethnisierung der Einwan-derinnen, ohne dabei auf das sozialwis-senschaftliche Paradigma der »Eth-nizität« zu rekurrieren, in dessen Rahmen Rassismus zu einem Unteraspekt des Ethnozentrismus degradiert wird.
Miles bestimmt Rassismus analytisch ausschließlich als ideologischen Prozess der Repräsentation von Gruppenkon-struktionen in Diskursen der Differenz. Dabei weist er methodologisch-indivi-dualistische Ansätze (wie den von Cohen7), die vom individuellen Nutzen der Vorurteile für die rassistischen Subjekte ausgehen, ebenso zurück wie funktionalistische Ansätze, die den Rassismus auf seine Funktion und seine Konsequenzen reduzieren. Im Unterschied zur bundesdeutschen Debatte unter-scheidet Miles Ausgrenzungspraktiken vom institutionellen Rassismus. Er benutzt den Begriff der Ausgrenzungspraxis, »um all die Fälle zu analysieren, in denen eine näher bezeichnete Gruppe bei der Zu-teilung von Ressourcen und Dienst-leistungen nachweislich ungleich be-handelt wird, oder in denen sie in der Hierarchie der Klassenverhältnisse sys-tematisch über- oder unterrepräsentiert ist«. Notwendige definitorische Voraus-setzung dieser so gefassten Ausgrenz-ungspraxis ist die Diskriminierung einer sozial definierten Gruppe, die der Aus-grenzung vorausgeht. Die jeweiligen Praktiken von Diskriminierung, Unter-drückung und Ausgrenzung implizieren nicht unbedingt eine funktional äqui-valente Ausgrenzungsideologie. Sie sagen an sich nichts über den repräsentationalen Gehalt der ausgeübten Diskriminierung aus.
Der hierzu komplementäre Begriff ist der des »Institutionellen Rassismus«, derauf zwei Arten von Verhältnissen beruht und diese widerspiegelt. Erstens basiert er auf Verhältnissen, in denen Ausgrenzungs-praktiken direkt aus einem rassistischen Diskurs heraus entstehen und ihn ma-terialisieren, ohne dass die Praktiken explizit durch diese Diskurse gerecht-fertigt werden. Diese Ausprägungsform resultiert aus der Präexistenz eines Rassismusdiskurses. Die Institutionen führen einen Rassismus quasi-auto-matisch fort, wie z.B. im Fall des Anti-ziganismus, in dessen Rahmen Roma und Sinti bis heute diskriminiert werden. Zweitens beruht der Institutionelle Rassismus auf Verhältnissen, in denen ein explizit rassistischer Diskurs so abge-wandelt wird, dass der unmittelbar rassistische Inhalt verschwindet, sich die ursprüngliche Bedeutung aber auf andere Wörter überträgt.
Die zweite Ausprägungsform, die für die aktuelle Formation des neorassistischen
Diskurses in Deutschland sehr cha-rakteristisch ist, konzipiert Miles als einen »Verschiebungsprozess der Bedeutungen, in dessen Rahmen ein rassistischer Diskurs in einem anscheinend nicht-rassistischen
Diskurs Eingang findet.« Der französische Rassismusforscher Etienne Balibar trägt diesem Aspekt der metonymisierenden Wandlung des rassistischen Diskurses in Frankreich folgendermaßen Rechnung: »So entdecken wir, daß im heutigen Frankreich die ,Immigration’ der Name par excellence für die Rasse geworden ist, ein neuer Name, der jedoch die gleiche Funktion wie der alte hat, so wie ,Immi-grant’ das Hauptmerkmal ist, das die Einordnung der Menschen in eine rassis-tische Typologie erlaubt.«8
Ausschlaggebendes Moment bei der Analyse ist somit nicht die Beurteilung der rassistischen Handlungsformen, sondern das Aufzeigen einer historischen Ver-kettung: der Geschichte des Rassismus.


Business dass

Institutioneller Rassismus hängt also eng mit Prozessen der Migration zusammen, in deren Wirkungszusammenhang sich rassistische Ausschließungs- und Unter-werfungspraktiken heute vielfach über-lagern.
In den Migrationsregimen der National-staaten, aber auch in supranationalen Institutionen wie der EU, artikulieren sich nicht nur die Modi der Einwanderung, sondern auch die pluralen Klassen-kräfteverhältnisse, die die Unterschicht-ung und Entrechtung der Migrantinnen möglich machen. Dies heißt auch, den Zusammenhang zwischen Staat, Volk, Nation und Kapitalismus in den Blick zu nehmen, denn dieser ist es, der letztlich Institutionellen Rassismus ermöglicht. Ihn lediglich zu konstatieren, hieße, ein psychologisches oder anthropologisches Modell des Rassismus einfach auf den Staat zu übertragen, ohne die spezifischen Eigenschaften der Institutionen zu berücksichtigen.
Was sind nun diese Spezifika? Unseres Erachtens müsste man, um Institutionen und damit auch den Institutionellen Rassismus analysieren zu können, einen materialistischen Institutionenbegriff zugrunde legen. Dabei wäre zunächst Abschied von einem naiven Verständnis der Institutionen zu nehmen, nach dem diese nichts weiter sind als gesell-schaftliche Konventionen. Man müsste stattdessen darüber nachdenken, welche gesellschaftlichen Verhältnisse sich auf welche Weise in den Institutionen eigentlich artikulieren und welche Transformationen des Sozialen und Politischen im Prozess der Institut-ionalisierung stattfinden. Das wäre die Voraussetzung, Institutionen in eine Geschichte der rassistischen Verhältnisse einbetten zu können, denn der Rassismus kann nur in seiner historischen Bewegung verstanden werden. Schließlich bedarf es einer Reflektion der spezifischen Art und Weise, in der rassistische Praktiken in staatlichen Apparaten überhaupt exis-tieren können, d.h. also auch einer Analyse der Staatsapparate hinsichtlich ihrer Funktion im Migrationsregime. Bereits Ende der 70er Jahre entwickelte der marxistische Theoretiker Nicos Poulantzas einen relationalen Staatsbegriff, der für die Beantwortung der Frage nach dem Zusammenhang von Staat, kapitalistischer Ökonomie und Rassismus hilfreich ist. Nach Poulantzas verdichten sich die Klassenkräfteverhältnisse im Sinne einer geordneten Verkettung von Effekten im Staat materiell und schreiben sich in seine institutionelle Materialität konstitutiv ein. Der Staat kann demnach nicht als neutrales Instrument betrachtet werden, als leere Hülle, derer sich die jeweils stärkste gesellschaftliche Gruppe be-mächtigt, auch nicht als Subjekt, das eine abstrakte Macht jenseits der Klassen-struktur besäße. Er ist sowohl Kristall-isationspunkt als auch Ort der Klassenaus-einandersetzungen. Mit der Konzeption des Staates als der materiellen Ver-dichtung von Kräfteverhältnissen fand Poulantzas staatstheoretischer Beitrag seinen populärsten Slogan (kritisch dazu Demirovic 9).
Eine solche Theorie der Klassenkräftever-hältnisse unterscheidet zwar Klassen-fraktionen, geht aber auf die für unsere Fragestellung entscheidende Klassenzu-sammensetzung nicht ein. Transnationale Migration ist nun aber unter anderem ein Prozess der permanenten Neuzusam-mensetzung der Klassen. Um Migration und Rassismus im strukturellen und institutionellen Aufbau des kapital-istischen Staates bestimmen zu können, bedarf es über Poulantzas’ These hinaus einer Perspektive auf den Zusammenhang von Ethnisierung und Migration in ihren Wirkungen auf die beherrschten Klassen und ihre Spaltungen.


Wohlfahrt für Staatsbürger
Die Weltsystem-Theorie von Immanuel Wallerstein lieferte hierzu bereits in den 70er Jahren einen entscheidenden Hin-weis.10 Ihr zufolge erwächst Arbeits-migration aus den Funktionserforder-nissen des sich ständig verändernden kapitalistischen Weltsystems und seines Zwangs zum Wachstum. Sie ist verknüpft mit Prozessen der »Ethnisierung« der Weltarbeitskraft und mit der rassistischen Segmentierung des Arbeits- und Wohn-marktes. Rassismus sei also die Institutionalisierung der durch die internationale Arbeitsteilung durch-gesetzten Hierarchien. Wallerstein weist des weiteren darauf hin, dass die struktur-elle Spannung und Ungleichheit in der internationalen Arbeitsteilung nicht automatisch und unvermittelt, sondern über den Staat in die Strukturn der nationalen Segmentierung von Arbeits-märkten hineinwirkt.
Die Ethnisierung könnte demnach als ein konstitutives Element der Klassenbildung bestimmt werden, und zwar nicht auf der Ebene der Klasse als Produktivkraft, sondern in Bezug auf das kapitalistische (Staats-)Regime, das in der strukturellen Desorganisation der Beherrschten besteht.
Der kapitalistische Staat reguliert inner-halb des jeweils etablierten Migrations-regimes nicht nur die Segmentierung der Arbeitskraft, sondern er kontrolliert auch eine Struktur der differenzierten Re-produktion der Arbeitskräfte. Um zu verstehen, wie diese Reproduktion entlang ethnisierender Kategorien funktionieren kann, bedarf es wiederum einer genaueren Bestimmung des Ein- bzw. Ausschluss-modus unter der Perspektive auf die Nation-Form und ihres Wandels als politisch-ideologische Einheit. Mit anderen Worten, wenn in Poulantzas’ Konzeption des Staates dieser durch den Klassenkampf strukturiert ist und die Kräfteverhältnisse im Klassenkampf die Art und Weise sowie den Umfang mark-ieren, in dem die Arbeiterklasse »im Staat anwesend« ist, auf welche Weise ist dann der Rassismus im Staat anwesend?
Wir glauben, dass Etienne Balibars These vom »national-sozialen Staat«11, die er in Anschluss an Poulantzas entwickelte, die theoretische Lücke schließen kann. Balibar zufolge ist »die Regulierung [...] der Klassenkämpfe durch die Sozialpolitik und die Institutionen zur kollektiven Sicherung zumindest eines Teiles der Lohnarbeiter, die als ,Wohlfahrtsstaat’, Weifare State oder Sozialstaat bezeichnet wird, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts absolut unentbehrlich für die Erhaltung der
nationalen Form des Staates«. Die Be-deutung des »national-sozialen Staats« liegt darin, ein Migrationsregime zu etablieren, das die Rekonstitution der beherrschten Klassen als desorganisierte ermöglicht. Diese Desorganisierung ist möglich, weil die in diesem Prozess stattfindende Kopplung sozialer Rechte an die Staatsbürgerschaft, die »soziale Staatsbürgerschaft«, wie Balibar es nennt, die Nationalisierung der Arbeiterklasse materiell fundiert. Auf der anderen Seite ist die staatliche Kontrolle von Ein-wanderung der institutionelle Ort, an dem ein Mechanismus der differenzierenden Reproduktion der Arbeitskraft dadurch stattfinden kann, dass einem Teil der Arbeiterklasse soziale Rechte vorenthalten werden. Die Trennung von Lohnarbeit und Staatsbürgerschaft für einen Teil der Arbeiterklasse liefert dann die Grundlage dafür, dass sich der Rassismus konstitu-tiv in die institutionelle Materialität des Staates einschreibt.


Produktion von Gesellschaftlichkeit

Die Frauen- und Ökologiebewegungen, aber auch die Kämpfe der Migration haben sich historisch gegen die zentrale Bedeut-ung der produktiven Arbeit und gegen die Ausschließlichkeit klassischer Klassen-kampfkonzeptionen gerichtet. Sie haben Klassenkämpfe aber nicht völlig negiert, sondern in einen neuen Zusammenhang gestellt und erweitert. Angesichts der Krise des europäischen Sozialstaats-modells und aufgrund von Massen-arbeitslosigkeit sowie der generations-übergreifenden Ausgrenzung von Migrantinnen und Migranten ist es jedoch nicht damit getan, einfach das Ende der (Lohn-)Arbeit auszurufen. Es ist die historisehe Veränderung der produktiven Arbeit selbst, die die Koordinaten zu ändern vermag: Wenn die produktive Arbeit zugleich »Produktion von Gesell-schaftlichkeit« wird, wie Negri und Hardt in »Empire« schreiben, geht es nicht mehr
nur um die Herstellung materieller
Existenzmittel, sondern dann ist sie auch potenziell politische Praxis.
Wenn die Arbeit sich ändert, müssen sich auch die Formen des gemeinsamen Kampfes ändern und der Institutionen des
sozialen Konflikts. Ein Konzept von Gemeinwesen und Bürgerschaft sei dafür nötig, so Etienne Balibar in seinem Buch »Sind wir Bürger Europas?«12, das nicht auf Integration und Konsens beruht, sondern den Bürger vom transnationalen Stand-punkt her als politisch aktiven Kämpfer vorstellt. Die materielle Grundlage einer für Immigranten offenen »Bürgerschaft in Europa« (im Gegensatz zu einer »euro-päischen Staatsbürgerschaft«) bilde die Aushandlung von Grenzübertritten für Migrationsbewegungen. Dies schaffe ein neues Aufenthaltsrecht, mit dem Ziel, eine Veränderung des historischen Verhält-nisses der Bevölkerung zum Territorium zu finden. Ein Ansatz, der das klassische Feld von Nation, Staat und dessen Grenzen verlässt. Nur so kann institutioneller Rassismus an seinen Wurzeln bekämpft werden.

 

Anmerkungen:

1 Gomolla, F., Radtke, O. (2002): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule, Opladen. Und: Räthzel, N. (1994): Arbeit und Diskriminierung am Beispiel Hamburgs, Hamburg.
2 Unter dem aus dem US-amerikanischen Englisch kommenden Begriff affirmative action werden alle Programme und Maß-nahmen gefasst, mit denen An-gehörige benachteiligter gesellschaft-licher Gruppen vom Staat, von öffent-lichen Einrichtungen oder von Arbeits-gebern gezielt gefördert werden (Zu-lassungserleicht-erungen, Stipen-dien, Förderkurse usw.).
3 Jäger, S. (1992): Brandsätze:
Rassismus im Alltag, Duisburg.
4 Jäger S., Jäger, M. (2002):
Das Dispositiv des
Institutionellen
Rassismus. Eine
diskurstheoretische
Annäherung. In:
Demirovic, A., Bojadzijev, M.,
a.a.O., S. 212-224.
5 Rommelspacher,
B. (1995): Dominanz-
kultur. Texte zu Fremd-
heit und Macht, Berlin.
6 Miles, R. (1991): Rassismus. Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffs, Hamburg.
7 Cohen, P. (1994): Verbotene Spiele. Theorie und Praxis antirassistischer Erziehung, Hamburg.
8 Balibar, E. (1990): Rassismus und Krise. In: Balibar, Wallerstein: Rasse, Klasse, Nation. Ambiva-lente Identitäten. Ham-burg, 261-272.
9 Demirovic, A. (1982): Jenseits der Ästhetik. Zur diskursiven Ordnung der marxistischen Ästhetik, Frankfurt.
10 Wallerstein, Immanuel (1986): Das moderne Weltsystem: kapitalistische Lands-wirtschaft und die Entststehung der euro-päischen Weltwirtschaft im 16. Jahrhundert, Frankfurt.
11 Balibar, E. (2001): Kommunismus und Staatsbürgerschaft. Überlegungen zur eman-zipatorischen Politik am Ende des 20. Jahrhunderts. In: diskus 2, Frankfurt.
12 Balibar, Etienne (2003): Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen, Hamburg.


Serhat Karakayali und Vassilis Tsianos
sind bei kanak attak aktiv
(www.kanak-attak.de).