Nach 500 Jahren Unterdrückung und zehn Jahren verdeckter
Organisierung erhoben sich die Indígenas in Chiapas am 1. Januar 1994
in einem bewaffneten Aufstand.
Das „¡Ya Basta!“ – Es Reicht! der„Zapatistischen
Armee zur Nationalen Befreiung“ (EZLN)ist bis heute nicht verhallt.
Ein Rückblick und eine vorläufige Bilanz.
10 Jahre zapatistischer Aufstand
Das "Ya Basta" geht um die Welt
Die Gründe für den Aufstand
Auslösende Faktoren für den Aufstand im Südosten Mexikos waren
die Reprivati-sierung des Gemeindelandes und die Preiskrise von Produkten wie
Kaffee und Mais. EZLN-Sprecher Subcomandante Marcos meinte zur erstaunlichen
Bereit-schaft ganzer Talschaften, sich der Guerilla anzuschliessen: „Es
gab schlicht keine Alternative zum bewaffneten Kampf.“ Erst recht, als
Mexiko dem Nordamerikanischen Freihandelsab-kommen NAFTA am 1. Januar 1994 beitrat.
Den mexikanischen Kleinbauern und –bäuerinnen wurde damit auf lange
Sicht die Chance auf eine würdige Existenz genommen. Die EZLN stellt eine
Hoffnung auf ein Ende der Margi-nalisierung dar. Im Krieg gegen die Elite sollte
eine grundlegende Veränderung der interethnischen Beziehungen zwischen
der mestizischen1 und der indigenen Bevölkerung Mexikos und ein Wechsel
im ganzen politischen System erreicht werden.
Dabei scheint die anfänglich kleine Gruppe um Marcos einen Schritt getan
zu haben, den andere Organi-sationen nicht machten: den Schritt von der marxistisch-leninisti-schen
Ideologie und letztlich einem euro-päischen Politik-verständnis hin
zur „Indianisierung“. Das Eingehen auf die Bedürfnisse und
die Real-ität der Gemeinden be-schreibt Marcos so: „Die EZLN wurde
in dem Moment ge-boren, als sie akzeptierte, sich mit der neuen Realität
aus-einanderzusetzen, auf die sie keine Antwort hatte und der sie sich unterzuordnen
ge-zwungen sah, um in dieser Realität – im wahrsten Sinn des Wortes
- zu überleben“. Marcos bezeichnet diese Anpassung der Guerillagruppe
an die lokalen Gegebenheiten in den indigenen Dörfern als „die erste
Niederlage der EZLN, die wichtigste, welche sie von diesem Zeitpunkt an prägte.
(...) Als die EZLN sich mit den Gemeinden zu verflechten beginnt, wird aus ihr
ein weiteres Element in ihrem Widerstand, wird von den Gemeinden angesteckt
und ordnet sich ihnen unter. Die Gemeinden nehmen sich der EZLN an und nehmen
sie unter ihre Fittiche.“ Aus einem isolierten Guerilla-grüppchen,
das sich als Selbst-verteidigungskomitee der unter der Repression leidenden
Gemeinden verstand, wuchs so in den Jahren 87-90 eine Bewegung heran, welche
Tausende von Mitgliedern umfasste. Für Frauen bot sich zudem eine Fluchtmöglichkeit
aus der Enge der patriarchalen indigenen Gemeinden: Der Frauenanteil in der
Guerilla beträgt dreissig Prozent.
Trotz Widerstand der städtischen compas, welche die Perspektive eines Angriffs als selbstmörderisch einschätzten, wurde im Januar 93 die indigene Kommandantur der EZLN, das CCRI (Comité Clandestino Revolucionario Indígena), gebildet und übernahm auch formal das Kommando der Aufstandsarmee. Die Bewegung war nun in indigener Hand und erstmals schlossen sich verschiedene indigene Völker in Chiapas zu einer gemeinsamen, pluriethnischen Bewegung zusammen. Gleichzeitig jedoch distanzierten sich gerade die als traditionell geltenden Tzotziles2 des Hochlandes von Chiapas von einer Indigenisierung3 der Forderungen der Aufstandsbewegung: “Jene, die ihre Wurzeln am meisten behüten, David, Ana María und all die anderen sind am meisten abgeneigt, die EZLN bloss als eine indigene Bewegung zu sehen.“ In der Analyse der indigenen Kommandantur der EZLN könnten hingegen nur ein landesweiter Aufstand und landesweite Forderungen nach Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit erstens die mestizische Bevölkerung in ihren Kampf einbinden und zweitens eine Veränderung auf nationaler Ebene - den Sturz der korrupten Staats-partei PRI - herbeiführen. Oder wie Subcomandante Marcos die Wünsche des CCRI an ihn als Verfasser der Com-muniqués beschreibt: „Wenn du zu sehr auf dem Indigenen beharrst, wirst du uns isolieren; du musst es öffnen; wenn du auf das Indigene zurückgreifst, mach es universell, so dass alle gemeint sind.“
Der Aufstand und der Krieg gegen das Vergessen
Gleichzeitig mit dem Beitritt Mexikos zur NAFTA trat die EZLN mit einer über-raschenden
Guerillaoffensive am 1. Januar 1994 erstmals an die Öffentlichkeit: Sie
besetzt mehrere Bezirkshauptorte, darunter die Touristenstadt San Cristóbal
de las Casas sowie Ocosingo, Altamirano und Las Margaritas. Subcomandante Marcos
verlas in San Cristóbal die „Erste Erklärung aus dem Lakandonischen
Urwald“: „Ya Basta! Heute sagen wir: es reicht!“ In dieser
Erklärung sind die 11 Forderungen der EZLN aufgeführt: „Arbeit,
Land, Wohnung, Nahrung, Gesundheit, Bildung, Unabhängigkeit, Freiheit,
Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden“. Ein entschlossener Aufstand gegen
das Vergessen, gegen die Unsichtbarkeit der marginalisierten indigenen Bevölkerung.
Meist ohne offene Kampfhandlungen wurden Waffenlager in Polizeistationen geräumt
und Gefängnisse geöffnet. Die EZLN nahm am 3. Januar auch den früheren
Gouverneur von Chiapas, General Absalón Castellanos Dominguez, auf seinem
Herrensitz fest und machte ihm den Prozess als „einem der gewalttätigsten
Gouverneure in der Geschichte von Chiapas.“ Sie liess ihn einige Wochen
später wieder frei mit der Strafe, „bis ans Ende seiner Tage mit
der Schande leben zu müssen, von denjenigen Vergebung und Güte erfahren
zu haben, die er so lange Zeit erniedrigt, verschleppt, vertrieben, beraubt
und ermordet hat“
In zwölf Tagen Gegenoffensive bom-bardierte die mexikanische Armee indi-gene
Gemeinden mit Pilatus-Flugzeugen, hergestellt in Stans4. Es starben einige Hundert
ZivilistInnen, Soldaten und Aufständische. Aussergerichtliche Hinrichtungen
und Vertreibungen forder-ten ihre Opfer. Doch der Krieg gegen die schlecht bewaffneten
Aufständischen führte in Mexiko Stadt und international zu einem Proteststurm.
Am 12. Januar 94 demonstrierten hunderttausend Personen in Mexiko-Stadt gegen
den Krieg in Chiapas. Präsident Salinas de Gortari sah sich gezwungen,
aufgrund des Drucks der Bevölkerung einen einseitigen Waffen-stillstand
auszurufen. Die Zapatistas halten sich bis jetzt an diesen Waffen-stillstand
und entwickelten zahlreiche politische Initiativen, um ihren Forder-ungen Gehör
zu verschaffen.
Das Zentrum und Symbol der jahr-hundertelangen Ausbeutung, das Tourist-enstädtchen
San Cristóbal de las Casas, war einen ganzen Tag lang in der Hand aufständicher
Indigenas. Viele Gemeinden und Regionen waren am Aufstand selber nicht beteiligt
gewesen, doch durch die indigenen Siedlungen ging ein Ruck und das zapatistische
Feuer verbreitete sich in den Wochen und Monaten darauf schnell. In den Monaten
darauf wurden viele Grossgrundbesitzer in ganz Chiapas enteignet und die lokale
Oligarchie musste um ihre Pfründe zittern.
Die zapatistische Basis organisiert sich autonom
Schon bald zeigte sich, dass das lokale Machtgefüge nicht durch Wahlen
aus-zuhebeln war, da sich die PRI weiterhin durch Wahlbetrug an der Macht hielt.
Die Zapatistas forderten in Verhandlungen mit der Regierung eine weitgehende
indigene Autonomie ein. Ein erster Kompromiss wurde in San Andrés zum
Thema „Indigene Rechte und Kultur“ erzielt. Doch dieses erste Abkommen
blieb toter Buchstaben. Weil es nicht umgesetzt wurde, sistierte5 die EZLN weitere
Verhandlungen. Die EZLN übte mit zivilen politischen Initiativen Druck
aus, es gründeten sich auf Anregung der Zapatistas der Dachverband der
indigenen Organisationen (CNI) und die Unterstützungskomitees des Frente
Zapatista6. Gleichzeitig sollten die autonomen lokalen Strukturen in ihren Dörfern
Tatsachen schaffen und GegnerInnen wie AnhängerInnen zeigen, dass eine
Alternative zur korrupten Regierung machbar ist. Die nach langen Perioden des
Schweigens immer wieder mit grossen und fantasievollen Mobili-sierungen überraschende
EZLN wurde so zur Leitfigur einer Demokratisier-ungsbewegung, welche das mexikanische
politische System in seinen Grundfesten erschütterte.
In den Dörfern im Konfliktgebiet vertiefte sich die Spaltung unter AnhängerInnen
und GegnerInnen des EZLN zusehends. Die Devise der Zapatistas, gemeindeinterne
Auseinandersetzungen im Dialog zu lösen und Provokationen aus dem Wege
zu gehen, verhinderte jedoch nicht immer gewaltsame Konflikte. Oft wurden diese
durch die Regierung geschürt oder eskalierten erst, wenn Armee und Polizei
sich einmischten. Dieser „Krieg niederer Intensität“ schafft
bis heute in den Gemeinden ein Klima der Angst mit dem Ziel, die aufständischen
Familien zu zermürben. Es kam auch immer wieder zu Austritten aus der zapatistischen
Struktur. Doch es gelang der Regierung nicht, die Bewegung merklich zu schwächen.
Das jüngste Beispiel für die ungebrochene zapatistische Präsenz
ist die im August 2003 erfolgte, viel beachtete Ausrufung der „Räte
der guten Regierung“, mit denen die indigene Autonomie im zapatistischen
Einflussbereich auf regionaler Ebene umgesetzt werden soll.
In der Praxis der indigenen Autonomie soll aus Fehlern gelernt und Widersprüche
nicht ausblendet werden. Die EZLN fasst dies in ihr poetisches Leitmotiv „preguntando
caminamos“ – „Fragend gehen wir voran“, auf dem steinigen,
aber selber erkundeten Weg aus der Marginali-sierung und Abhängigkeit hinaus.
Heute: Das neoliberale Dogma wankt
Die durch die Zapatistas initiierten internationalen Mobilisierungen wurden
zu einer wichtigen Wurzel der Bewegung gegen den Neoliberalismus, hierzulande
besser bekannt unter den Namen Anti-WTO-, Anti-WEF- oder Anti-Globalisierungsbewegung.
Die als „Woodstock der Linken“ (Spiegel) verschrieenen Interkontinentalen
Treffen 1996 und 1997 waren trotz ihrer inhaltlichen Unverbindlichkeit ein wichtiger
Ausgangspunkt für eine Neuorientierung der Linken nach dem Berliner Mauerfall.
Oder wie Subcomandante Marcos sagte: „Vielleicht hat der Zapatismus ihnen
[also uns] geholfen sich zu erinnern, dass gekämpft werden muss, dass es
sich lohnt zu kämpfen, oder vielmehr, dass es unabdingbar ist zu kämpfen,
nicht mehr und nicht weniger“.
Bleibt die Hoffnung, dass die Anti-Globalisierungsbewegung auf Chiapas zurückwirkt
und gemeinsam interamerikanische Grossprojekte und Freihandelsabkommen wie das
von der USA diktierte Free Trade Agreement of the Americas (FTAA) zu Fall gebracht
werden können. Das Scheitern der WTO-Konferenz und das Zusammengehen anlässlich
der Proteste gegen die WTO in Cancún - Bauern- und Indígena-Organisationen,
Gewerkschaften und städtische Anti-Globalisierungsgruppen demonstrierten
gemeinsam - war ein vielversprechender Auftakt.
Zitate aus: Yvon LeBot (Edit.): Subcomandante Marcos:: El sueño zapatista.
Ein Artikel für den
„Correos de las Américas“.
Anmerkungen:
1. Mestizen ist der Begriff für Menschen die sowohl europäische als
auch indigene Vorfahren haben.
2. Die Tzotziles sind eine indigene Bevölkerungsgruppe.
3. “inigenas” ist das Wort das statt dem Begriff “indios” also Indianer benutzt wird. Indigenisierung bedeutet “Indianarisierung”
4. Pilatus ist ein Flugzeughersteller mit Hauptsitz im schweizerischen Stans.
5. sistieren: Ein Verfahren unterbrechen; vorläufig einstellen
6. frente Zapatista bedeutet wörtlich übersetzt “zapatistische Front”
Direkte Solidarität mit Chiapas